Pfarrer will mehr wissen
Jüdische Spurensuche
Elli Maresch / privat
16.07.2015
esz
Artikel:
Download PDF
Drucken
Teilen
Der Turm mit seiner barocken Haube musste 1790 nach einem schweren Unwetter wieder neu aufgebaut werden. Elemente des bäuerlichen Barocks – blau gestrichene, mit bunten Rosen bemalte Holzsäulen, ein reich verzierter Orgelprospekt mit Engeln und einem Herzen im Strahlenkranz – prägen den Innenraum. Das große Kruzifix, das der Bildhauer Otto Flath nach dem Zweiten Weltkrieg schuf, fügt sich harmonisch ein.
Mit einer Innenraumrenovierung in den Jahren 1974 bis 1976 sowie einer Dach- und Turmsanierung 2012 bis 2014 ist die Kirche in gutem Zustand. Schmucklose Flachdachbauten von 1968 sind das Pfarr- und das Gemeindehaus. Kirche und Gemeindehaus werden vielseitig genutzt, Ober-Seemen ist eine volkskirchlich geprägte Gemeinde, gute Nachbarschaft mit den Ortsvereinen, mit Schule und Kindertagesstätte trägt dazu bei, viele Menschen zu erreichen.
Die Ober-Seemener empfinden die Kirche tatsächlich als mitten im Ort. So gibt es neben dem Kirchenchor, geleitet von Andreas Göbel, drei weitere Gesangsgruppen in Ober-Seemen. Zweimal im Jahr nutzen sie die Kirche zu gemeinsamen Konzerten, geistliche und weltliche Musik locken viele Zuhörer an. Das Sommerfest feiern rund um die Ober-Seemener Kirche alle vier Gemeinden miteinander, obwohl auch die Filialorte – Mittel- und Nieder-Seemen und Volkartshain – eigene historische Kirchen haben.
Kirchengemeinde Seydain Sachsen-Anhalt ist Partner
Am vierten Advent laden die Ober-Seemener Vereine zu einem Weihnachtsmarkt rund um die Kirche, bei dem auch die Frauen der Spinnstubb, des Handarbeitskreises der Gemeinde, ihre Socken, Handschuhe, Kindersachen und Kuscheltiere verkaufen. Irmgard Kipper und Lieselotte Jung organisieren diese Gruppe. Der Erlös fließt gemeinnützigen Projekten, etwa der regionalen Sozialstation oder dem Gederner Krankenhaus, zu.
Seit langen Jahren besteht ein partnerschaftlicher Kontakt mit der Kirchengemeinde Seyda in Sachsen-Anhalt. Regelmäßig machen sich Ober-Seemener auf den Weg dorthin, wohnen in Gastgeberfamilien, absolvieren in der Regel ein rundes Programm mit Stadtführung in Wittenberg, Gemeindeabenden und Besuchen kirchlicher Einrichtungen.
Den Frauenkreis im Ober-Seemener Gemeindehaus besuchen die älteren Frauen des Ortes und Volkartshainerinnen, inhaltlich gestaltet ihn Pfarrer Kuhnke. Ihm ist das aktive Engagement der Gemeindeglieder wichtig. Nicht nur, weil er mit vier selbstständigen Gemeinden intensiv gefordert ist – ihm geht es darum, dass viele Menschen ihre individuellen Talente und Interessen in das Gemeindeleben einbringen.
Der Kindergottesdienst im Gemeindehaus, von einem Kreis Engagierter um Meike Schauermann kreativ gestaltet, steht auch Jungen und Mädchen aus den Filialorten offen. Die Konfirmanden aus dem ganzen Seemental treffen sich einmal im Monat zu einem Blockarbeitstag dort. Auch in diesen Gruppen geht es darum, Glaubensbotschaften mit Verstand, Gefühl und Fantasie erlebbar zu machen.
So entwickelte die derzeitige Konfirmandengruppe Bibeltheater mit Spielszenen zu den zehn Geboten und formulierte eine eigene lebenspraktische Ethik: »Kinder, Eltern und Großeltern, sorgt füreinander und respektiert euch!« Der Besuchsdienstkreis hält Kontakt zu Menschen, die durch Alter, Krankheit oder Behinderung ans Haus gebunden sind.
»Je kleiner der Ort ist, desto wichtiger die Kirchengemeinde«, sagt der Pfarrer. Ein Blick nach Volkartshain scheint ihm Recht zu geben. In dem Örtchen mit 118 Protestanten fanden sich sieben Kandidaten und Kandidatinnen für den Kirchenvorstand, die Wahlbeteiligung lag bei 65 Prozent! Auch hier wird es viel zu tun geben, die Außenfassade der schlichten kleinen Kirche muss zum Beispiel grundständig renoviert werden. Das bedeutet unter anderem eine komplett neue Verkleidung mit Holzschindeln, einem in der Gegend typischen Baustoff.
Zu ihren Arbeitsplätzen müssen viele Bürger pendeln
Auch Volkartshain hat eine interessante Kirchengeschichte. Hierher kamen die lutherischen Glaubensbrüder und –schwestern aus den benachbarten Büdingen-Ysenburgschen Gebieten zum Abendmahl. Sie waren um die Wende zum 17. Jahrhundert zwangsreformiert worden. »Solche idyllischen Orte, der Vulkanradweg, die Landschaft ...« könnten Touristen denken bei der Fahrt durch Ober-Seemen und Volkartshain.
Doch selbst im kleinen Volkartshain hat der letzte Landwirt aufgegeben und seine Flächen verpachtet, es gibt praktisch nur Arbeitsplätze außerhalb mit meist langen Anfahrtswegen. Ober-Seemen hat zwar noch Handwerks- und Industriebetriebe sowie zwei große Bauernhöfe. Die Biogasanlage des einen beheizt übrigens auch Gemeinde- und Pfarrhaus sowie die Kirche. Aber auch hier müssen viele Bürger zu ihren Arbeitsplätzen pendeln. Pfarrer Kuhnke sind die Strukturprobleme des ländlichen Raumes sehr bewusst, er sieht hier ein großes Aufgabenfeld der Kirchengemeinden.
Und er hat einen Wunsch: »Wenn mir die Gemeindearbeit dazu Zeit lässt, möchte ich mit historisch interessierten Gemeindegliedern auf Suche nach Spuren der jüdischen Gemeinde Ober-Seemen gehen. Noch gibt es einen verlassenen Judenfriedhof, eine derzeit leerstehende große Synagoge – ich würde gern mehr über die Menschen wissen, die damals hier gelebt haben und vertrieben oder ermordet wurden.«
Pfarrer Michael Kuhnke
Am Kirschengarten 3
63688 Gedern-Ober-Seemen
Telefon: 0 60 45 / 46 19
E-Mail: ev.pfarramt.ober-see
men@gmx.de
Seit mehr als 20 Jahren gestaltet Myriam Jez, hier im Gespräch mit Pfarrer Michael Kuhnke, den Kindergottesdienst mit (rechts). Angeregt handarbeiten für einen guten Zweck: Hier übergeben die Frauen der Spinnstubb eine Spende an Sozialstation und Krankenhaus (oben). Der Nachwuchs in Ober-Seemen ist eifrig dabei, Adventsschmuck zu basteln (links).
Diese Seite:Download PDFTeilenDrucken