Dekanat Vorderer Odenwald

Angebote und Themen

Herzlich Willkommen! Entdecken Sie, welche Angebote des Dekanates Vorderer Odenwald zu Ihnen passen. Über das Kontaktformular sind wir offen für Ihre Anregungen.

    AngeboteÜbersicht
    Menümobile menu

    Ukraine-Krieg

    Vom Wert der Feindbilder

    Dekanat Vorderer Odenwald

    Margit Binz ist Ökumene-Pfarrerin im Evangelischen Dekanat Vorderer Odenwald. Durch die Aufnahme einer befreundeten Familie aus der Ukraine rückte ihr der Krieg sehr nah. Dadurch wurden ihr biblische Texte wichtig, in denen es um die klare Unterscheidung zwischen Freund und Feind, Gut und Böse und um Gottes Zorn geht.

    Rogier van der Weyden creator QS:P170,Q68631, Rogier van der Weyden,Erzengel Michael, CC BY-SA 4.0Feindesliebe? Das heißt sich zu wehren und zu schützen. Es heißt auch, Rache und Vergeltungswünsche bitte zurückstellen in der Hoffnung auf Gerechtigkeit. Das Bild zeigt ein Detail aus: Das Jüngste Gericht (um 1450), Der Erzengel Michael mit der Seelenwaage von Rogier van der Weyden.

    Von Margit Binz

    Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs habe ich das Gefühl, ich lebe in einer anderen Welt. Eine Woche nach dem russischen Angriff zogen aus meinem Freundeskreis drei Leute, die aus Kiew geflüchtet waren, bei uns ein. Ich kannte sie über das Atelier McKiev in Frankfurt, in dem ich male. Eine Familie aus drei Generationen 32, 52 und 82 Jahre alt. Es war eine Zeit der emotionalen Wechselbäder, kaum möglich, davon unberührt zu bleiben: anfängliche Schockstarre, ständig erhöhte Alarmbereitschaft, schlaflose Nächte, Erschöpfung, Angst, Stress, Wut und Trauer, politische Debatten, das ständige Verfolgen von furchtbaren Nachrichten, die Frage, ob man lachen dürfe (ja!), Video-Abende mit den Coen Brothers, das überwältigende Bedürfnis zu tanzen und zu malen, der dringende Wunsch, etwas zu tun und die Frage: Was? Dazu kamen eine das Haus und alle Bewohner durchlaufende Covid 19-Infektion, wahre Kochorgien mit Unmengen an Borschtsch, Plow, grüner Soße, Baba Ganousch, Krautwickeln, Sauerkraut und Turkey.

    Das alles und noch viel mehr führte zu einem Ausnahmezustand, der noch immer nachklingt. Als kurz vor Ostern alle Papiere beieinander waren und die Kiewer weiterzogen, hielten sich Erleichterung und Abschiedsschmerz die Waage. Inzwischen waren wir zu einer Familie zusammen gewachsen. Jetzt frage ich mich, wie es wohl wäre, hätte man Freunde aus jedem Kriegsgebiet der Welt und würde Menschen von dort aufnehmen. Wie könnte man das aushalten? Wie und in welcher Welt würde man leben?

    Durch die Ereignisse der vergangenen Wochen ist einiges durcheinander gekommen. Ich verstehe manch kirchliche Debatte nicht. Mit vielen Friedensgebeten kann ich nichts anfangen. Aber was wirklich neu ist: Es sind mir biblische Texte nahe gekommen, die ich immer mit etwas Unbehagen betrachtet habe: Rache- und Gewaltfantasien, die Beschwörung des göttlichen Zorns, Gerichtsvorstellungen, insgesamt alles Texte, die Abgrenzung, klares Freund-Feind-Denken sowie eine eindeutige Unterscheidung von Gut und Böse zeigen.

    Um die Feinde zu „lieben“ muss man sie erstmal sehen und hassen können

    Ich erinnere mich an einen der Aha-Momente aus meinem Theologiestudium. Im Zusammenhang mit Religionspsychologie und Predigtlehre ging es um die Bedeutung von Feindbildern. Feindbilder – so die These – seien extrem wichtig zur geistigen und emotionalen Gesundheit und Abgrenzung. Niemand komme ohne sie aus. Sie schafften ein Gefühl von Identität und Zusammengehörigkeit, das natürlich immer wieder hinterfragt gehöre. Aber eine Person, eine Gruppe oder eine Gesellschaft ohne die Fähigkeit, sich gegen Feindliches abzugrenzen, seien in sich nicht gesund und stabil. Die Frage sei: Wogegen bzw. wozu grenze man sich ab? Und wer oder was ist eigentlich ein „Feind“?

    Das war im kirchlichen Kontext, wo nicht Abgrenzung, sondern eher Vertrauen, Frieden, Überwindung von Grenzen und Feindesliebe beschworen werden, schon damals provozierend, und das ist es heute immer noch. Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wird von manchen ein Rückfall in „einfaches Freund-Feind-Denken“ beklagt. Es wird gesagt, Frieden brauche Vertrauen und Deeskalation. Durch Waffen werde ja kein Frieden geschaffen. Meines Wissens behauptet das zwar niemand. Aber so allgemein ausgedrückt ist es ja noch nicht einmal ganz falsch. Trotzdem klingt es für mich ziemlich blutleer und gefühlsarm oder seltsam hilflos und unangemessen lieb.

    Wut über die Gewalt

    Denn zum einen wird hier das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine wenn überhaupt, dann eher nur am Rande und etwas widerwillig erwähnt, und das finde ich fatal. Und zum anderen wird auf der emotionalen Ebene etwas vernachlässigt, das viele Texte in der Bibel noch wunderbar ausdrücken können: den Schmerz, die Trauer, die Klage und die unbändige Wut über die Gewalt und die Vernichtung des Lebens und all dessen, was Menschen lieb ist. Und das daraus rührende Bedürfnis nach Rache, Vergeltung und Gerechtigkeit. Die Bibel redet nicht nur von Liebe und Vertrauen.

    Nein, in der Bibel, auch im Neuen Testament, finden sich ganz klare Feindbilder. Es wird nicht nur gesegnet, es wird auch verflucht. In den Psalmen und vielen anderen biblischen Büchern gibt es extrem gewalttätige Fantasien über das, was den Feinden zustoßen soll. Dafür wird dann auch oft Gott beschworen, genauer gesagt: Gottes Zorn. Würde man Gottes Zorn bildlich darstellen, dann kämen diese Bilder vielleicht den tibetischen Schutzgottheiten oder der indischen Göttin Kali nahe. Feuer, Schwerter, Keulen, Schädel, Grimm... Wahrhaft furchterregend. In der Auseinandersetzung mit dem Buddhismus habe ich gelernt, dass diese zornigen Gottheiten dem Schutz dienen, dem Schutz der Lehre und der Gläubigen. Vielleicht trifft das auch auf den Zorn Gottes zu.

    Es gibt in der Bibel jede Menge Passagen, die Gottes Zorn sehr furchterregend ausmalen. Entsprechende Passagen kommen aber im Gottesdienst selten vor oder sie werden gekürzt. Ich mache das auch meist so. Es gibt ja auch gute Gründe dafür, Fantasien über Gewaltexzesse oder Blutrausch nicht das Wort zu reden, gerade wenn sie von wahrhaft biblischem Ausmaß sind. Und es ist auch nicht besonders aufbauend, im Gottesdienst zu hören, Gott möge die Schädel der Feinde zertrümmern (Psalm 68,22). Oder doch? Salonfähig ist es nicht, aber Menschen, die diese Texte sprechen oder beten können, die machen zumindest aus ihren Herzen keine Mördergrube und sie vertrauen auf eine „höhere Gewalt“.

    Als am Anfang des Krieges ein starkes Erdbeben in Fukushima mit Tsunami-Warnung gemeldet wurde, stand ich mit der Freundin aus Kiew in der Küche und es entfuhr mir: Wo ist Gott? Warum kann dieses Erdbeben nicht Moskau treffen? Sie nickte. Wir schwiegen. Dann sagte sie: Vielleicht nicht ganz Moskau. Nur den Kreml oder den Bunker, wo sich Putin und seine Leute aufhalten. Ich nickte auch. Dann sprachen wir darüber, dass wir Putin und seiner Gefolgschaft den Tod wünschten, aber noch mehr, dass er und alle anderen vor Gericht gestellt und verurteilt würden.

    Ich finde: Das ist Feindesliebe. Feindesliebe im Falle von Krieg und Gewalt hat weder mit Gewaltlosigkeit zu tun, noch mit Vertrauen oder Vergebung und noch weniger mit Ergebung. Feindesliebe hat mit dem Verlangen nach Gerechtigkeit zu tun und mit der langwierigen Etablierung anderer Sitten als der rohen Gewalt, selbst für die Feinde. Der Wunsch nach Rache und Vergeltung und die Fantasien dazu sind absolut menschlich und verständlich, mir auch nicht fremd. Nur treffen sie halt meistens auch die Falschen.

    Im Krieg sterben Tiere, Babys, Kinder, Jung und Alt

    Ganz Moskau möge ein Erdbeben treffen? Sterben da auch die Unschuldigen, die Babys? Und die Tiere? So haben manche Kinder bei der Geschichte von der Sintflut gefragt. Ja, im Krieg und bei den Gewaltexzessen gegen die Menschen in der Ukraine und anderswo, da sterben Tiere, Babys, Kinder, Jung und Alt. Das kann einen unendlich traurig und zornig machen.

    Es ist richtig, sich mit militärischen und zivilen Mitteln gegen eine solche Aggression zur Wehr zu setzen, so wie es die Menschen in der Ukraine tun. Und ich finde es auch richtig, die Ukraine mit Waffen, auch den sogenannten schweren, und mit allem, was hilfreich ist zu unterstützen. Es wäre richtig, dem Diktator durch Embargos und Sanktionen den Geldhahn noch viel mehr zuzudrehen und sich politisch, wirtschaftlich und geistig endlich von Autokraten und Diktaturen zu lösen, auch wenn das nicht leicht ist. Und es ist richtig, sich moralisch abzugrenzen, seine eigenen Werte zu bewahren und Gleiches nicht mit Gleichem zu vergelten.

    Ohne Gerechtigkeit, ohne die Unterscheidung zwischen Gut und Böse und die Bereitschaft auch dafür einzustehen, werden Ideen von Frieden, Vertrauen und Liebe schnell zu Phrasen, bequem und gefährlich hohl. Viele biblische Texte leben von Unterscheidung, Abgrenzung, klaren Worten und Taten. Es ist interessant, sich damit auseinanderzusetzen. Gott und die Gläubigen sind in der Bibel nicht nur lieb. Sonst wären sie bedeutungslos.

    Für alle, die sich selber ein (Feind)Bild zum Thema machen wollen, sind die Psalmen eine wahre Fundgrube. Exemplarisch seien Psalm 9, 30 und 35 genannt: Gebete von unschuldig Verfolgten! Eine besonders blutige Rachephantasie findet sich am Anfang von Jesaja 63. Weitere berühmt gewordene Kriegs- und Rachephantasien finden sich im Neuen Testament, besonders in der Offenbarung ab Kapitel 6. Die erwähnte Vorlesung zur Religionspsychologie und das Seminar zur Predigtlehre habe ich Anfang der 80er Jahre bei Prof. Dr. Manfred Josuttis in Göttingen besucht.

    Diese Seite:Download PDFDrucken

    to top